204 - Alex Sadkowski - Der Kuss (31.10.1993 - 8.1.1994)

Vernissage
Sonntag, 31. Oktober 1993, 10.30 - 13.00h
Einführende Worte von Tadeus Pfeifer

 

Ausstellung
Bis 8. Januar 1994

Schnell, schnell,
meine Damen und Herren!
Langsam, langsam, nur mit der Ruhe, nicht gehetzt!

Mitten in diese polaren, umso intensiveren Aufforderungen, ja Anrufungen, sehen Sie sich als Kunstliebhaber hier gestellt. Das Schnelle - der Strich - ist getragen vom Präzisen, vom Gekonnten, vom Formalen mithin; das Langsame -die darunterliegende bildnerische Absicht -betrifft den breiten Raum, den Sie sich in Ihrer Phantasie freischaufeln sollen, um völlig individuell für sich selbst Ihre Assoziationen zu geniessen, die freie Kette Ihrer persönlichen Sinn-Zusammenhänge herzustellen.

Wir haben es mit einem eminent poetischen, wir haben es mit einem Liedhaften, einem singenden Werk zu tun. Was ist denn ein Kuss, meine Damen und Herren, (das Flüchtigste der Innerlichkeit ebenso wie das Intimste äussersten Begehrens - und schliesst ein die ganze Palette zwischen diesen beiden lustbetonten Schein-Paradoxen), was ist denn der Kuss anderes als die Epiphanie des Liedes, des Gedichts, der Lyrik?

Alex Sadkowsky schreibt nicht umsonst viel, hat immer viel geschrieben neben seiner Arbeit als Zeichner und Maler. Erlauben Sie mir, als Reverenz an diese seine Beziehung zum Wort, Ihnen die schönste literarische Aeusserung über den Kuss, die ich kenne, vorzulesen, Günter Eichs berühmtes Sonett aus seinem Hörspiel «Die Brandung vor Setubal»:

Die Zeit, die wir getrennt sind
Die Zeit, die wir getrennt sind: Sieben Tage.
Wie sieben Wellen rinnen sie im Fluss,
ein Nichts in seiner Wasser Ueberfluss,
wie ichs zum Trost mir unaufhörlich sage.

Wie aber kommts, dass ich sie nicht ertrage,
die kurze Spanne, die ich fern sein muss,
dass ein versäumter Blick und ein versäumter Kuss
die schlimmsten Gründe sind für meine Klage?

Kein Mass mehr gilt; nur an dir selber messen,
Natercia, sich jetzt Ewigkeit und Zeit
und Blick und Kuss und Bitternis und Leid.

Uhr und Kalender hab ich lang vergessen.
Vor deinem Auge endet jede Stunde,
die Ewigkeit beginnt an deinem Munde.

«Die Ewigkeit beginnt an deinem Munde» - die Ewigkeit? Dann muss der Ewigkeit eine sehr, sehr schnelle Kraft innewohnen, ein intensiver Blitz des Flüchtigen. Ob der Kuss ein Küsschen ist oder ein verschmelzender: Eine Ewigkeit wird er gewiss nicht dauern, aber mit, an ihm beginnt sie.

Man küsst mit dem Mund, und dieser spielt seit vielen Jahren in Alex Sadkowskys Werk seine ebenso herzförmige wie zerrissene Rolle. Oft lacht und/oder schreit er, sehr oft lächelt er still und heiter, oft nähert er sich einem andern, dem Herzen gleichend, dem Auge in jenen stilisierten erotischen Formen, die an indische Ikonographien mahnen.

Die für mich dichteste Darstellung jenes Ewigkeitsbeginns, bzw. eben jener Energetik, die von vier sich vereinigenden Lippen geschaffen wird, finde ich in der Zeichnung, die Alex Sadkowskys eigene, ineinander verwobenen, verknäuelten Signaturen, seinen eigenen Namen also, zur Bahn der Vereinigung verwendet.

Das ist natürlich keine qualitative, sondern eine rein persönliche Bemerkung, ich erwähne das Bild nur, weil es beispielhaft auf die Spannung hinweist, die in den Zeichnungen pulsiert: Zum Kuss gehören zwei, ein Ich und ein Du, und doch erlebt sich in ihm immer nur das Ich in seiner ganzen, verschmolzenen, verdoppelten Grösse; es vermag zu wechseln, das Ich, in das Du hinüber und zurück, bleibt aber - anders als im geschlechtlichen Liebesakt - um sich zu erleben in die Grenzen seiner Individualität gebunden - ein Aspekt, der auf den andern «Kuss-Zeichnungen» illustrativer zutage tritt, vermehrt auch in Einsamkeiten verweist und am ergreifendsten sich in den reinen, eleganten Linien der beiden Profile formuliert, die nur noch zwei rote Münder versetzt gegeneinanderstellen. Sie zeigen nichts mehr als das energetische Feld, den Zwischenraum, jene Virtualität des Kusses, die gleich darauf wie eine Feuerwerksblume in Herz und Mund explodieren wird.

So assoziativ sich Alex Sadkowskys ganzes, grosses Werk gibt, so dissoziativ kann es handkehrum auftreten. Der überreiche Phantasiefluss, dem Sie sich vor oder besser in einem Sadkowsky-Bild getrost anvertrauen können, mag auch plötzlich anhalten; Humor, Lust, ja Skurrilität können mit einem Mal Zersetzungserscheinungen freilegen. Sehr oft freundlich im Sinn von zugeneigt, ja, aber gemütlich oder besonders liebenswürdig geht es nicht zu in der Welt dieser Bilder.

Viele Positionen des Werks sind obsessive Positionen, und der Kuss, wenn er sich verselbständigt, verliert auf arge Weise seine Sinn des Ausdrucks des Zueinanderkommens und Beieinanderseins und wird sehnsüchtige Klage im Moment schrecklicher Einsamkeit. Ebenso die Lust wie Sehnsucht und Klage werden immer gebrochen - mit der Genauigkeit.

Man ist schnell versucht, vor den Bildinhalten gewissermassen zu kapitulieren. Ich will damit sagen, über die Bildinhalte die Zeichnung selbst zu vergessen. Die künstlerische Phantasie und ihr Vokabular aber sind eines, ein anderes sind die Art und Weise der Darstellung. Sicher misst man gegenwärtig der Technik eines Kunstwerks übergrosse Bedeutung zu, die manchen manchmal sogar seinen Sinn in ihr suchen lässt, von solchem Blödsinn rede ich gewiss nicht.

Ich rede davon, dass sich eine stupende zeichnerische Genauigkeit - also: Virtuosität - an diesen Bildern ablesen lässt, und sie erst ist es, die die Flüchtigkeit eines Kusses zu etwas Immerwährendem werden lässt, das sich weiterhin dynamisch ereignet, ohne seine Intimität im Geringsten zu verraten.

Die Zeichnung selbst, und darauf bitte ich Sie nun zu achten, zwingt das Vorübergehende in den spannungsgeladenen Stillstand und baut ein künstlerisches Energiefeld zwischen zwei Mündern auf, in dem bei genauer Betrachtung - alles geschehen kann.

Alles? Und wie funktioniert das? Ich gebe Ihnen ein kleines Beispiel. Die Erotik, deren Inbegriff der Kuss doch wäre, sie müssen Sie in diese Bilder hineinsehen, diese Seh-Arbeit bleibt Ihnen weitgehend selbst überlassen: Dargestellt ist die Erotik nicht oder kaum. Dargestellt ist das Verlangen.

Oder ein anderes: Oft ist schwer zu entziffern, wer ist Mann und wer ist Frau auf diesen Zeichnungen - einige Attribute - meist träumerischen Begehrens - geben seltene Auskunft.

Ein drittes. So eindeutig die Botschaft des Kusses sich behauptet, so errätselt tritt sie in Alex Sadkowskys künstlerischer Dialektik auf: «Der Kuss» - wie sich die Ausstellung auf der Einladungskarte nennt - findet eigentlich nicht statt: Gleich wird er stattfinden, in wenigen Augenblicken, aber noch befinden sich die Lippen auf der Suche nach ihm. Es ist - schnell, schnell, meine Damen und Herren, langsam, langsam! - ein Moment, der ewig dauert. Er wirkt - dargestellt, gezeichnet - als Tor, der in den metaphysischen Raum führt.

«Die Ewigkeit beginnt an deinem Munde.» Betreten Sie diesen Raum. Durch dieses Tor.

Nun habe ich von der Liebe noch gar nicht gesprochen, überhaupt nicht - und wünsche Ihnen doch für die geistige Erfahrung dieser Ausstellung ein sensualistisches Vergnügen. Ich bedanke mich.

 

Tadeus Pfeifer


Presse