Vernissage
Samstag, 24. Januar 1998, ab 14 Uhr
Der bekannte Schweizer Schauspieler und Autor
Guido Bachmann
liest anlässlich der Vernissage.
Ausstellung
Bis 21. März 1998
Berühmt ist Günter Grass, der «Schwarzseher der Nation» (wie er sich selbst bezeichnet), als kritischer, provozierender, als unpassender und unangepasster, dafür umso treff- und wortsicherer Zeitgenosse, der sich regelmässig und hartnäckig zu Wort meldet, dessen Botschaften nicht überhört und übergangen werden können.
Er ist wohl Deutschlands herausragendster Dichter der Gegenwart und gefürchtetster Kritiker der Nation, weil er seine Meinung, seine eigensinnige Sicht der Dinge fast nie zurückhält und damit vielen ohnmächtig Sprachlosen eine Stimme gibt - wie Victor Hugo in «Les Miserables», Pablo Picasso mit seiner «Guernica» und Charlie Chaplin in allen Filmen.
Der breiten Öffentlichkeit weit weniger bekannt ist Grass als Zeichner von Radierungen und Lithographien, obwohl er bereits 1956 erstmals ausstellte und seitdem über 200 Ausstellungen folgten in aller Welt, von Almansil, Alsdorf und Amsterdam über London, Mailand, New York, Oslo und Peking bis Zagreb und Zürich.
Weshalb seine Worte eher gehört werden als seine Bilder betrachtet, ist schwer zu sagen. In einer Zeit der Bilderflut können ausgezeichnete Werke übersehen werden, das überzeugende Pamphlet, ein sprachsicherer Text oder eine wortgewaltige Anklage hingegen sind - gerade wenn sie unmittelbar und unmissverständlich ausgedrückt werden - kaum zu überhören. Vielleicht ist Grass als Schreibender aber auch weit schärfer, härter und deftiger denn als Zeichner, sind seine Graphiken stiller, auch geduldiger und vielleicht gar versöhnlicher als seine berüchtigten Texte und Ansprachen.
Als Schriftsteller ein reiner Autodidakt, ist Grass von Haus aus bildender Künstler: Er lernte Steinmetz, liess sich danach in Bildhauerei und Grafik an der Düsseldorfer Akademie ausbilden und war an der Berliner Hochschule für Bildende Künste der Meisterschüler von Karl Hartung.
Diese Doppelbegabung als Schriftsteller und Maler, diese doppelte Notwendigkeit des schöpferischen Ausdrucks führt beim Publikum häufig zur Unsicherheit: Ist denn nun Günter Grass Schriftsteller oder Graphiker? Für ihn selbst stellt sich die Frage nicht: Er kann diese ausschliessende Abgrenzung der Künste, wie sie heute üblich ist, nicht nachvollziehen, er bezeichnet sie als akademisch, gar als lächerlich: Seide Ausdrucksformen sind derart eng verwandt - selbst die Musik hat ja ihre Schriftzeichen und kann Bilder erschaffen! -, Zeichnen und Schreiben, die Linie und das Wort ergänzen sich, stehen nicht neben-, sondern untrennbar miteinander. Sogar wenn sie in der künstlerischen Auseinandersetzung ein gegnerisches Paar bilden, gehen sie ineinander über. Grass selbst betont, dass häufig die Zeichnung vor dem Text steht oder ihm ins Wort fällt, genauso wie ein Satz den Lauf einer Linie bestimmen oder verändern kann. So ergibt die künsterische Einheit des Zeichners und Schriftstellers ein gezeichnetes und geschriebenes Gesamtwerk.
Günter Grass, der schon als Kind Maler, Bildhauer oder Bühnenbildner werde wollte, sieht sich selbst vor allem als bildender Künstler, der auch den Schriftsteller auslebt: «Ich zeichne immer, auch wenn ich nicht zeichne, weil ich gerade schreibe oder konzentriert nichts tue. ».
Bei Grass ist die Graphik oft auch Prüfstein für die Prosa, weil sie noch genauer, knapper und klarer sein muss: In Prosa kann Grass sich eher auslassen, kann Vor-, Nach- und Nebengeschichten erzählen, das Bild hingegen ist eine Momentaufnahme, alles andere entsteht und läuft ab im Kopf des Betrachters. Für Grass, den genussvollen Epiker, muss das Zeichnen wegen seiner strengen Begrenzung eine besondere Herausforderung sein, sie lässt ihn nämlich schreiben: «Seht», sagt die Zeichnung, «wie wenige Wörter ich brauche.». Der Lyriker korsettiert den Epiker, die Erzählung zu verdichten, damit die Grafik zum gezeichneten Gedicht wird.
Zwei der drei Hauptthemen seines graphischen Werks sind die wenigen Portraits (seine Frau Ute, Golda Me·,r, Max Frisch und David als Oskar, um schon fast alle genannt zu haben) und die dafür unzähligen Selbstportraits. Letztere sind allesamt zweifelnd, kritisch, sogar düster und hart mit dem Schöpfer selbst, obwohl er- der ausgesprochene Pessimist- in Interviews und Texten häufig leise schmunzeln kann. Die Selbstbildnisse sind kritisches Überdenken des eigenen Tuns, sind prüfende, nachfragende Aufnahmen des Künstlers; auch damit begleitet der Zeichner den Schriftsteller.
Das dritte, weitaus umfangreichste Thema seiner Grafik ist das Stilleben. Dort bevölkern die Grassschen Wappentiere - Schnecke, Butt, Ratte und Unke - zahlreiche Blätter - wobei gerade diese Figuren meist portraitiert werden und nicht leblose Bestandteile einer bildnerischen Komposition sind. Häufig taucht in Grass' Bildern Abfall auf: Nägel, Sarg- oder Kreuznägel, nie neu, sondern stets verkrümmt, verschlagen, unbrauchbar und unnütz. Die liegengelassenen Riemchenschuhe, die Zigarettenkippen, der verlorene oder weggeworfene Handschuh sind Überbleibsel, wie die zahlreichen abgeschlagenen Köpfe von Gänsen, Schweinen und Fischen. All das Strandgut ist Zeuge eines Vorfalls, einer Geschichte, deren Macher längst verschwunden oder gestorben sind. Günter Grass zeichnet, was übrigbleibt, wenn andere - die Macher, die Machthaber und die Mächtigen - ihre Geschichte vor- und festgeschrieben haben. Doch die Kunst vermag nicht nur «dem Vergänglichen Dauer zu verleihen», wie Volker Neuhaus schreibt, sondern sie hat die Fähigkeit, sie bietet die Möglichkeit, Vergangenes nicht dauerhaft so sehen, begreifen und verstehen zu müssen, wie es den jeweils gerade Herrschenden in den täglichen Kram passt.
Eigentlich trifft man bei Grass auch immer wieder auf ein viertes Thema: die Frau. Sie ist selten Hauptfigur im Vordergrund, sie nimmt bei ihm einen unauffälligen, aber deshalb nicht minder wichtigen Platz ein. Nur als Rättin steht sie im Rampenlicht der gezeichneten Bühne, sonst tritt das Weib fast immer auf als still Verführende und Bestimmende. Das Weibliche ist häufig nur angedeutet, doch zieht es die Fäden, ist Grund, Zweck und Ziel der handelnden männlichen Figur.
Seine Radierungen sind nicht Illustrationen der weltbekannten Texte, sondern eher Erweiterungen, Ergänzungen oder Voraussetzungen der Prosa, sind lyrische Geschwister seiner Erzählungen, Momentaufnahmen, mögliche Geschichten zur selben Thematik. Die Figuren seiner Zeichnungen machen das Nicht- und Niegelesene sichtbar, sie erzählen, was der Leser nicht kennt.
Man kann durchaus Grass' Kunst als surrealistisch bezeichnen (genauso wie seine Erzählungen auch surreal sind), doch bliebe es bei dem einen Begriff, würde das Werk verkannt. Der Künstler versteht es sowohl als Schriftsteller wie als Zeichner, die Figuren über das Symbolhafte und Irreale hinaus real, wirklich werden zu lassen: Es ist nicht unvorstellbar, dass einst die Ratten das Sagen haben werden, die Rättin wird durch Grass zur gescheiten, manchmal auch weisen Figur, der man - genauso wie dem fordernden, geschlechtlichen, sogar gewalttätigen Butt - durchaus begegnen könnte. Durch die Abstraktion des Realen und gleichzeitige Schöpfunq einer neuen, künstlerisch-kunstvollen Realität, bevölkert Grass die sog. «Welt 3» von Karl Popper, die ebenso wirklich ist, weil sie uns beschäftigt, auf uns wirkt, ab und zu sogar prägt. Darum sind Grass' Figuren keine Symbole, sondern werden zu Objekten und Wesen mit Eigenleben.
Gleichwohl sind die allermeisten seiner Zeichnungen nicht nur «sich selbst», sondern werden durch die Verknüpfung unserer Vorstellungen, durch Assoziation zum Sinnbild für Anderes: Sie zeigen z.B. Grass' Erotik - die phallischen Pilze und Aale, der zum Kuss, zum Geschlechtsakt ansetzende Butt oder die sich ihrer Erotik äusserst bewusste Rättin.
Andere Werke entstanden aus tiefer Betroffenheit, sind Zeichen seiner Empörung, seines Zorns und seiner Trauer. Damit werden sie zu gesellschaftskritischen. politischen und moralischen Klagezeichen: die Serie zum Danziger Aufstand 1981, die hässlich träfen «SA-Scheuchen» zu «Hundejahre» (1990), die beschämenden menschlichen Mütlandschaften der «Calcutta»-Skizzen - es sind Reportagen seines mehrmonatigen Aufenthalts 1987/88 -, die Reihe «Totes Holz» von 1990 (wo Grass seine Niedergeschlagenheit und seine Wut über die toten Wälder im Mittelgebirge zeichnet) oder die ketzerische «Treuhand» (1992).
Unbarmherzig zwingt Grass den Betrachter zum beteiligten Hinsehen in einer Zeit, die - geil vor lauter Gaffen - das Wegschauen zur Tugend erhoben hat. Damit erforscht, beschreibt und bezeichnet dieser Sohn eines Kolonialwarenhändlers, der Spross einer kleinbürgerlichen Familie aus Danzig, die Wirklichkeit unserer Zeit, ist schreibender Photograph und zeichnender Chronist unseres Jahrhunderts. Konsequent, vielleicht sogar vernarrt - doch braucht unsere Epoche Narren nötiger denn je! -, kann und will Günter Grass nicht schweigen, sondern muss sein Hand- und Kopfwerk öffentlich ausüben: « Ein schreibender Zeichner ist jemand, der die Tinte nicht wechselt.».
Enrico Ghidelli